Neue starke weibliche Stimmen der französischen Literatur

Die Neuauflage der ins Deutsche übersetzen Werke von Annie Ernaux bei Suhrkamp oder der Erfolg der Trilogie Vernon Subutex von Virginie Despentes waren schon Zeichen der wachsenden Popularität von französischen Autorinnen. Seit Anfang des Jahres beweisen aber mehrere neue starke weibliche Stimmen aus Frankreich, dass Ernaux oder Despentes keine Ausnahmen sind…

Nach dem Riesenerfolg von „Der Zopf“ ist der zweite Roman von Laetitia Colombani, „Das Haus der Frauen“, sofort ganz oben auf den Bestsellerlisten gelandet. Marion Messina wurde für ihren ersten Roman „Fehlstart“ als die „weibliche Houellebecq“ bezeichnet; doch lesen Sie selbst, um zu urteilen, ob das wirklich stimmt oder ob sie vielmehr ihre eigene literarische Identität besitzt. Außerdem sind Anfang des Jahres neue Titel von Emmanuelle Bayamack-Tam, Belinda Cannone und Nathalie Azoulai erschienen. Und in den nächsten Wochen können Sie noch dazu die beeindruckenden Debütromane von Isabelle Mayault und Adeline Dieudonné entdecken.

Cover Haus der Frauen

Laetitia Colombani, „Das Haus der Frauen“, Übersetzung von Claudia Marquardt, S. Fischer (Les Victorieuses, Grasset)

In Paris steht ein Haus, das allen Frauen dieser Welt Zuflucht bietet. Auch der erfolgreichen Anwältin Solène, die nach einem Zusammenbruch ihr Leben in Frage stellt. Im »Haus der Frauen« schreibt sie nun im Auftrag der Bewohnerinnen Briefe - an die Ausländerbehörde, den zurückgelassenen Sohn in Guinea, den Geliebten - und erfährt das Glück des Zusammenhalts und die Magie dieses Hauses. Weil Solène anderen hilft, hat ihr Leben wieder einen Sinn. Doch wer war die Frau, die vor hundert Jahren allen Widerständen zum Trotz diesen Schutzort schuf? Solène beschließt, die Geschichte der Begründerin Blanche Peyron aufzuschreiben.

Cover Fehlstart

Marion Messina, „Fehlstart“, Übersetzung von Claudia Steinitz, Hanser (Faux départ, Le Dilettante)

Als ihre erste Liebe scheitert, zieht die neunzehnjährige Aurélie von Grenoble nach Paris. Dort will sie endlich in vollen Zügen leben und mit ihrem Jurastudium die provinziellen Arbeiterbiographien ihrer Eltern hinter sich lassen. Aber in Paris reicht es gerade mal für einen Job als Empfangsdame, der Wohnungsmarkt entpuppt sich als anarchische Zone und die Liebe ist eine Farce zwischen freundlichen Arrangements und Pornographie. Doch dann setzt Aurélie alles auf Anfang. Voll Zorn, Klarsicht und gnadenloser Ironie blickt Marion Messina auf das Leben einer jungen Frau und ins Innerste einer neuen verlorenen Generation.

Cover mexikanische Nacht

Isabelle Mayault, „Eine lange mexikanische Nacht“, Übersetzung von Jan Schönherr, Rowohlt (Une longue nuit mexicaine, Gallimard)

In einem sehr frischen Stil und einer gekonnten Mischung aus Nonchalance und Dramatik beschreibt Isabelle Mayault Menschen im Exil, im Aufbruch. Angeregt von einem realen Ereignis erinnert sie an weltberühmte Fotografen und porträtiert vier Frauen, die mutig und angstfrei ihre Träume verwirklichen, mit feministischem Engagement für eine bessere Welt kämpfen und am Ende einen unermesslichen Kunstschatz retten.

Cover Tam Arkadien

Emmanuelle Bayamack-Tam, „Arkadien“, Übersetzung von Patricia Klobusiczky, Secession (Arcadie, P.O.L)

Die junge Farah, überzeugt, ein Mädchen zu sein, begreift eines Tages, dass ihr Körper nach und nach männlicher wird. Krankhafte Mutation oder sagenhafte Metamorphose?
Ihre Eltern haben in einer libertär lebenden Kommune Zuflucht gefunden, deren Mitglieder in der modernen Welt nicht zurechtkommen. Farah wächst in diesem von riesigen Wald- und Wiesenflächen umgebenen Paradies auf, wo sie mit anderen Kindern erlebt, wie die Erwachsenen mehr schlecht als recht ihre Ideale umsetzen: Absage an gesellschaftliche Normen, Freikörperkultur, freie Liebe und zwar für alle, auch für Alte und Kranke.
Das Wunder der Liebe entdeckt Farah mit Arcady, dem spirituellen Oberhaupt dieser bunten Gemeinschaft. Alles könnte so schön sein – wäre nicht ein Migrant in ihr Paradies eingedrungen, der die Kommune in helle Aufregung versetzt. Das Prinzip der universalen Liebe entpuppt sich als Lippenbekenntnis, man will sich hier genauso abriegeln wie in der Außenwelt. Alle, bis auf Farah, die sich jeder Zuschreibung entzieht: Mit ihrer jugendlichen Kühnheit wird sie zum Prüfstein für die Gemeinschaft und entwirft eine Utopie, in der wirklich alle Menschen aufgehoben sind, ungeachtet ihrer nationalen, sozialen oder sexuellen Identität.

Cover Rumoren der Welt

Belinda Cannone, „Vom Rauschen und Rumoren der Welt“, Übersetzung von Claudia Steinitz und Tobias Scheffel, Edition Converso (Entre les bruits, Editions de l’Olivier)

Der Roman geht der Frage nach, wo ist mein Platz in der Welt, wenn ich nicht der Norm entspreche? Und - wie kann die große Kakophonie, das lärmende Chaos unserer grausamen, nur von Gier gezeichneten Realität dennoch zu einer Befriedung, zu einer Ordnung des Wunderbaren, des großen Schweigens finden? Meisterlich hält dabei die Komponistin Jaumette die Fäden in der Hand, sie macht den von Hyperakusis befallenen Jodel nicht nach ihrem Körper, sondern ihren Kompositionen süchtig.

Cover die Zuschauer

Nathalie Azoulai, „Die Zuschauer“, Übersetzung von Paul Sourzac, Secession (Les Spectateurs, P.O.L)

27. November 1967 – kurz nach dem Ende des Sechstagekriegs schaut eine jüdische Exil-Familie in Paris die TV-Übertragung der berühmt gewordenen Pressekonferenz von General de Gaulle, in der er die Juden als ein "Elitevolk, herrschbegierig und selbstbewusst" bezeichnet: Fassungslosigkeit breitet sich bei den Eltern aus, die Jahre zuvor über Nacht den Orient hatten verlassen müssen.
Nathalie Azoulai kreiert um dieses schockierende Schlüsselerlebnis einen fein gewobenen Text, der mit seinen schillernden Erzählfäden der Textur jenes dunkel leuchtenden Etuikleides gleicht, das die Mutter ihre Nachbarin Maria zu nähen beauftragt – scheint ihr doch nichts wichtiger zu sein, als in die nachgeschneiderten Kleider der großen Hollywood-Filmdiven schlüpfen zu können, wie in deren glänzende, von Leidenschaft und Stolz geprägte Rollen.
Ihr dreizehnjähriger von Sprachen besessener Sohn jedoch, der de Gaulle bislang als Held verehrte und unter seinem Bett Berichte über ihn gesammelt hat, beginnt den "Retter Frankreichs" zu hinterfragen, denn er spürt, dass etwas ins Wanken geraten ist. Immer wieder befragt er seine Mutter nach dem Grund ihres Exils, nach dem Moment, da sie wusste, dass sie ihr Land verlassen muss, erhält aber nur schemenhafte Erinnerungsfetzen zur Antwort. Bis er eines Nachts mithören wird, wie sie Maria von ihrer Vergangenheit erzählt…

Cover das wirkliche Leben

Adeline Dieudonné, „Das wirkliche Leben“, Übersetzung von Sina de Malafosse, dtv (La Vraie Vie, Editions de l'Iconoclaste)

Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.

Cover Hexen

Mona Chollet, „Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen“, Übersetzung von Birgit Althaler, Nautilus (Sorcières. La puissance invaincue des femmes, La Découverte)

»Die Hexe verkörpert die von jeglicher Dominanz, von jeglichen Begrenzungen befreite Frau; sie ist ein anzustrebendes Ideal, sie weist den Weg.«
Die Hexenverfolgungen waren ein Krieg gegen Frauen, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Frauen, die unabhängig lebten, keine Kinder hatten oder einfach alt geworden waren, liefen zur Zeit der Renaissance Gefahr, verfolgt und verbrannt zu werden. Unser Bild von Frauen ist noch heute von negativen Stereotypen geprägt – entstanden in einer Geschichte, die ohne und gegen sie geschrieben wurde.
Mona Chollet macht die Hexerei zu einer großen feministischen Metapher und die Hexe zu einem begeisternden Vorbild selbstbestimmter Weiblichkeit. Mit über 180.000 verkauften Exemplaren wurde das Buch in Frankreich zum Bestseller.